Gefährdeter Bestand: Dorsche sind von verlängerten Nahrungsnetzen in der Ostsee betroffen

Der Bestand des Ostseedorschs befindet sich seit Jahren auf einem Tiefstand. Trotz historisch niedriger Fangquoten erholen sich die Populationen nicht. Forschende des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) und des Thünen-Instituts für Ostseefischerei konnten im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts BluEs nun erstmals einen Zusammenhang zwischen Blaualgenblüten in der Ostsee und verlängerten Nahrungsnetzen für den Dorsch nachweisen.

Das Phytoplankton ist der Energielieferant für alle Meeresökosysteme: Diese winzig kleinen, im Meerwasser schwebenden Pflanzen binden mittels Photosynthese die Energie in Form von Biomasse, die dann Schritt für Schritt in den marinen Nahrungsnetzen weitergereicht wird. Wieviel Energie bei den unterschiedlichen Lebewesen ankommt, hängt von der Position ab, die sie im Nahrungsnetz einnehmen. Man weiß, dass von einer Ebene zur nächsten rund 90 Prozent der Energie als Wärme verloren gehen. Je mehr Ebenen ein Nahrungsnetz hat, umso weniger Energie kommt bei den Lebewesen mit den höchsten Positionen wie etwa Raubfischen an.

„Das Phytoplankton der zentralen Ostsee hat sich in den letzten drei Jahrzehnten stark verändert. Zunehmend wird es im Sommer von massenhaft auftretenden fadenförmigen Cyanobakterien dominiert. Das Phänomen ist als Blaualgenblüten bekannt“, sagt Markus Steinkopf, Meeresbiologe am IOW. Auslöser seien die klimawandelbedingt höheren Wassertemperaturen und die nach wie vor zu hohe Nährstoffbelastung der Ostsee. 

„Aufgrund ihrer Form und Größe können fädige Blaualgen nicht von den kleinen Krebsen des Zooplanktons gefressen werden, die in marinen Nahrungsnetzen sonst die nächste Position nach dem Phytoplankton einnehmen." Welche Folgen das für die Energieversorgung höherer Lebewesen hat, war bislang nicht erforscht. In einer aktuellen Studie im Fachjournal Ecology and Evolution  zu Nahrungsnetz-Veränderungen in der Ostsee wird dieser Frage nachgegangen.

Hierin verglich der Meeresbiologe Steinkopf, Erstautor der Studie, die Position von Dorschen und Flundern im Nahrungsnetz zwischen der zentralen Ostsee und der westlichen Ostsee, wo Blaualgenblüten keine Rolle spielen. Um die Nahrung der untersuchten Fische zu identifizieren, nutzte er die Stickstoff-Isotopenanalyse in Aminosäuren. Denn je nachdem, was die Fische fressen, lassen sich in ihrem Muskelfleisch charakteristische Muster dieser Marker feststellen.

Bezüglich der Dorsche kam das Forschungsteam zu einem klaren Ergebnis: In der Blaualgen-belasteten zentralen Ostsee ist das Nahrungsnetz der dort lebenden Dorsche deutlich länger
als das der Dorsche in der westlichen Ostsee. Das bedeutet, dass die Dorsche eine hintere Position im Nahrungsnetz aufweisen und somit weniger Energie aufnehmen können - die Forschenden schätzen diesen Verlust auf 60 bis 99 Prozent im Vergleich zum Westdorsch. Bei den Flundern gab es hingegen nur geringe Unterschiede in der Nahrungsnetzposition.

Mittlerweile gilt für den Dorsch in der Ostsee ein strenges Fangverbot. Die EU-Staaten hatten beschlossen, dass Angler ab 1. Januar 2024 keinen Dorsch mehr in der Ostsee angeln dürfen. Auch Berufsfischer dürfen Dorsch nur als Beifang anlanden. Dorsch war neben Hering als sogenannter Brotfisch lange Zeit eine der wichtigsten Arten für die hiesige Fischerei gewesen.

Wie kommt es zu der markanten Nahrungsnetzverlängerung für den östlichen Dorsch?
„In den Blaualgengebieten stellt sich das Zooplankton um. Statt sich vegetarisch zu
ernähren, frisst es Mikroben, die sich von Ausscheidungen oder Abbauprodukten der
Blaualgen ernähren. Damit entsteht eine zusätzliche Nahrungsnetzebene“, erklärt Natalie Loick-Wilde, Co-Autorin der Studie. „Diese Art der Nahrungsnetzverlängerung bei Fischen wird schon länger theoretisch diskutiert. Wir können sie erstmals direkt messen“, sagt die Meeresbiologin. 

Sie hat am IOW eines der wenigen marinen Forschungslabore weltweit etabliert, in dem stabile Isotope von Stickstoff und Kohlenstoff in 13 verschiedenen Aminosäuren gemessen werden können. Diese Analyse bildet ein wertvolles Instrument, um grundlegende Veränderungen in Ökosystemen sichtbar zu machen und Zusammenhänge besser zu verstehen. Die Forschung zum Dorsch zeige, dass Einschränkungen bei der Fischerei für eine Bestandserholung allein nicht mehr ausreichen, resümiert Markus Steinkopf. „Vielmehr muss das Nahrungsnetz an sich rehabilitiert werden. Das gelingt aber nur, wenn man länderübergreifend alle Möglichkeiten ausschöpft, um die Überdüngung der Ostsee in den Griff zu bekommen.“ Die Studie zeige auch, dass Veränderungen im Nahrungsnetz sich zu einem Problem globaler Natur entwickeln werden, da der Klimawandel schädliche Algenblüten und viele weitere Stressoren verstärke.

Originalpublikation:
M. Steinkopf, U. Krumme, D. Schulz- Bull, D. Wodarg, N. Loick- Wilde (2024): Trophic lengthening triggered by filamentous, N2- fixing cyanobacteria disrupts pelagic but not benthic food webs in a large estuarine ecosystem, Ecology and Evolution, https://doi.org/10.1002/ece3.11048