300 Meter bis zum Meer

Gerade einmal 300 Meter sind es von ihrer Haustür zum Meer: Die Ostseeforscherin Mayya Gogina lebt in Rostock, Deutschlands zweitgrößter Stadt am Meer, und joggt dreimal pro Woche am Strand entlang.

Geboren ist die 36-Jährige in Russland, wo sie Hydrologie – die Lehre von den Eigenschaften und Erscheinungsformen des Wassers – studiert hat und zunächst arktische Flüsse auf dem russischen Festland erforschte. Jetzt widmet sich die Forscherin der Ostsee. Genauer gesagt, der Lebensweise von Muscheln und Würmern, die am Meeresboden leben.

Arbeitsplatz mit Meerblick

Gogina lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Rostocker Stadtteil Hohe Düne. Jeden Morgen nimmt sie die Fähre, um die Warnow zu überqueren – den Fluss, dem das Seebad Warnemünde seinen Namen verdankt. Während der drei Minuten Fahrzeit hört sie Musik und liest dabei wissenschaftliche Artikel über die Tiere, die sie erforscht.

Ihr Arbeitsplatz ist der Ostsee sogar noch näher als ihr Zuhause: Das Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde liegt direkt an der Strandpromenade. Hier hat Gogina 2010 in mariner Geologie promoviert. Seitdem arbeitete sie in verschiedenen Projekten im Forschungsschwerpunkt „Küstenforschung Nordsee-Ostsee", kurz KüNO, der vom Bundesforschungsministerium unter dem Dach von FONA gefördert wird.

„Neugierig, hilfsbereit und ehrgeizig!"

Ihre Kollegen beschreiben sie als „neugierig, hilfsbereit und ehrgeizig". Eine ehemalige Kollegin, die Ozeanografin Bronwyn Cahill von der Freien Universität Berlin, betont Goginas Talent für interdisziplinäre Forschung: „Ich war immer beeindruckt von ihrer Fähigkeit, ihre Arbeit auf eine leicht verständliche Weise zu kommunizieren", sagt Cahill und konkretisiert: „Sie hat ihre Arbeit zur Artenverteilung anderen Disziplinen leicht zugänglich gemacht. Diese Daten sind besonders relevant für die Entwicklung eines Sedimentmodells der Ostsee."

Kleine Meerestiere erfüllen wichtige Aufgabe im Ökosystem Meer

Aktuell ist Mayya Gogina im SECOS-Projekt tätig, das den Transport von chemischen Verbindungen zwischen dem Meeresboden und dem Wasser in der Ostsee erfasst. Kleinen Meerestieren wie Muscheln und Würmern kommt beim Transport dieser Stoffe eine entscheidende Rolle zu: Muscheln filtrieren das trübe Ostseewasser, dabei filtern sie die herabsinkenden Reste abgestorbener Pflanzen und Tiere, sogenannten Detritus, aus dem Wasser. Detritus dient auch Würmern als Nahrung. Somit fischen die Tiere die Abfallstoffe aus dem Wasser und lagern sie am Meeresboden ab. Das Meerwasser wird dank der kleinen Meerestiere klarer. Im SECOS-Projekt erstellen Gogina und ihre Kollegen einen Atlas der deutschen Küstengewässer, in den sie einzeichnen, welche biochemischen Funktionen die verschiedenen Meeresbodentypen in der Ostsee haben.

Mit dem Forschungsschiff auf die Ostsee

So nah Gogina auch am Meer arbeitet – für ihre Forschung ist das immer noch nicht nah genug. Um den Stofftransport in der Ostsee zu erforschen, müssen die Meeresforscher Proben in den verschiedensten Meeresgebieten nehmen. Dafür fahren sie mit modernsten Forschungsschiffen aufs Meer hinaus. Die junge Forscherin war schon auf mehr als 20 Ausfahrten dabei – auf der MERIAN, der ELISABETH MANN BORGESE, ALKOR, POSEIDON, PROFESSOR PENCK und einigen russischen Schiffen. Mit ozeanografischen Geräten werden die Leitfähigkeit, Sauerstoffgehalt, Temperatur und Wassertiefe sowie andere Parameter der bodennahen Wassersäule erfasst. Mit verschiedenen Greifgeräten wie zum Beispiel dem Van Veen-Greifer, Kastengreifer oder Multicorer nehmen die Forscher dann Sedimentproben, die auch die tierischen Bodenbewohner wie Herzmuscheln, Miesmuscheln, Seesterne und Seepocken mit ans Tageslicht befördern.

Die Ostsee: Ein Meer mit unterschiedlichen Lebensräumen

Die Ostsee birgt viele verschiedene Lebensräume: Im Westen bei Lübeck ist das Wasser dank Salzwassereinströmen aus der Nordsee sehr salzig und sauerstoffreich. Weiter östlich und gen Norden nimmt der Sauerstoff- und Salzgehalt deutlich ab. Dementsprechend unterschiedlich ist auch die Artzusammensetzung in verschiedenen Teilen der Ostsee: Vor Rostock fangen die Forscher besonders viele Exemplare der Baltischen Plattmuschel Limecola balthica, des Rasenringelwurms Pygospio elegans und des Schlammtrichterkrebses Diastylis rathkei. Die Gemeine Wattschnecke Peringia ulvae lebt in der Pommernbucht vor Rügen, weiter nördlich in Richtung Finnland kommt die Riesenassel Saduria entomon besonders häufig vor.

Punkte im Wurmgesicht geben Aufschluss über Arten

Die gewonnen Proben werden dann an Bord gesiebt, wobei feines Material wie Sand und Schlick ausgesiebt werden. „Alles, was größer als ein Millimeter ist, und das sind zumeist die Tiere, die uns interessieren, bleibt im Sieb zurück", erklärt Gogina. Anschließend identifizieren die Forscher unter dem Mikroskop, um welche Arten es sich bei ihrem Fang handelt. Keine leichte Aufgabe: „Muscheln mit einer Länge von einem Millimeter sehen fast wie ein Sandkörnchen aus, da ist es schwierig, sie mit bloßem Auge zu identifizieren", schildert Gogina. Zum Beispiel sehen Jungtiere der baltischen Plattmuschel Limecola balthica der Kleinen Pfeffermuschel Abra alba sehr ähnlich. „Unterscheiden kann ich sie an ihrer Form und Maserung der Schale." Um verschiedene Arten von Würmern zu bestimmen, muss die Meeresforscherin Borsten zählen oder Pünktchen im Gesicht betrachten – eine mühselige Detailarbeit. „Bisher habe ich leider noch keine neue Art entdeckt, aber das wäre schon nicht schlecht", lacht Gogina. „Das ist aber nicht der Schwerpunkt meiner Arbeit."

Wenig ältere Muscheln sind ein Indiz für Sauerstoffarmut

Sobald jedes Tier identifiziert wurde, werden die Tiere gewogen und gezählt, um die Anzahl der Individuen festzustellen. „Bei Muscheln messen wir außerdem die Länge der Schale, um festzustellen, ob es besonders viele alte oder junge Muscheln gibt", so Gogina. Wenn seit einer früheren Beprobung viele ältere Individuen verschwunden sind, kann das darauf hindeuten, dass die Tiere in der Zwischenzeit unter schlechten Umweltbedingungen gelitten haben – Sauerstoffarmut zum Beispiel. „Das ist ein besorgniserregendes Zeichen", so Gogina. Auch für das Ökosystem kann der Verlust erwachsener Tiere negative Folgen haben: „Ältere Tiere graben den Meeresboden stärker um oder filtrieren besonders viel Wasser. Wenn diese Funktion wegfällt, dringt weniger Sauerstoff in den Boden ein, was wiederum bedeutet, dass Bodenorganismen, die Sauerstoff benötigen, dort nicht mehr leben können. Das hat zur Folge, dass weniger Nahrung für größere Lebewesen zur Verfügung steht und hat Auswirkungen auf die gesamte Nahrungskette."

Geringe Muschelaktivität kann Blaualgenblüte verstärken

Wenn der Meeresboden von Muscheln weniger gründlich umgegraben wird, verändert sich auch der Fluss von Nährstoffen: Sauerstoffreiche Böden können mehr Phosphat speichern. Weniger Sauerstoff im Boden bedeutet deshalb, dass Phosphat aus dem Meeresboden ins Wasser austritt und sich dort anreichert. Dieser Nährstoffüberschuss – Eutrophierung genannt – fördert das Wachstum der giftigen Cyanobakterien, besser bekannt als Blaualgen. Der grünlichbraune Film auf der Ostsee beeinträchtigt nicht nur das Badevergnügen im Sommer, sondern deutet auch auf einen schlechten Zustand der Ostsee hin.

Forschen für den Schutz der Meere

Mayya Goginas Ziel ist es, zu verstehen, wie der Klimawandel, die Eutrophierung und andere Belastungen die Verbreitung von Meereslebewesen in der Ostsee beeinflussen. „Nur wenn wir die Verbreitung und Lebensweise der Meeresbewohner kennen, können wir die Meeresumwelt verantwortungsvoll nutzen und wirksam schützen", ist die Ostseeforscherin überzeugt.

Das Projekt SECOS

Dr. Mayya Gogina arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt SECOS. Zusammen mit ihren Kollegen erstellt sie einen Ostseeatlas, der die Leistung der Sedimente und der Küste in der deutschen Ostsee darstellt. Diese Informationen sollen die Grundlage für nachhaltiges Küstenzonenmanagement bieten. Das Bundesforschungsministerium fördert das Projekt, an dem aktuell auch die Universität Rostock und die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel beteiligt sind mit insgesamt 2,8 Millionen Euro.

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