Wärmeattacken aus dem Ozean: Meereis in russischer Arktis schrumpft

Der Einstrom warmer Wassermassen aus dem Nordatlantik in die europäischen Randmeere des Arktischen Ozeans trägt zu einer deutlichen Abnahme des Meereiswachstums bei. Dies berichten Forscherteams des Alfred-Wegener-Institutes (AWI) gemeinsam mit Forschenden aus den USA und Russland in zwei neuen Studien. Hierfür wurden mit Förderung des Bundesforschungsministeriums langjährige Messungen vor Ort, aber auch Daten von der MOSAiC-Expedition und von Satelliten ausgewertert.

Darin zeigen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einerseits, dass die Wärme aus dem Atlantik das winterliche Eiswachstum in der Barents- und Karasee bereits seit Jahren hemmt. Zum anderen können sie belegen, dass Wärmeattacken atlantischer Wassermassen auch weiter östlich in der Laptewsee das Eiswachstum mitunter so nachhaltig beeinflussen, dass die Effekte selbst ein Jahr später noch nachweisbar sind, wenn das Eis über den Nordpol Richtung Grönland gedriftet ist und die Arktis durch die Framstraße verlässt.

Das AWI-Team beziffert nun erstmals, welche Auswirkungen der Wärmeeintrag auf das Meereiswachstum in der Arktis hat. Zu beachten ist dabei, dass überall dort, wo im Sommer die Meereisdecke komplett wegschmilzt, das Meer im anschließenden Winter besonders viel Wärme an die Atmosphäre abgibt. Infolgedessen gefriert das Meer so rasant, dass die sommerlichen Eisverluste kompensiert werden. „Junges, dünnes Meereis leitet Wärme deutlich besser als dickes Eis und schützt das Meer deshalb schlechter vor der Auskühlung. Gleichzeitig gefriert mehr Wasser an der Eisunterseite, weshalb dünnes Eis auch schneller wächst als dickeres Eis", erläutert AWI-Meereisphysiker Dr. Robert Ricker.

Dieses wichtige Winterwachstum läuft jedoch nicht mehr in allen Randmeeren reibungslos ab, wie Robert Ricker und Kollegen mithilfe von Langzeitdaten herausgefunden haben. „Wir haben Satellitendaten der ESA Climate Change Initiative ausgewertet und sehen, dass im Zeitraum von 2002 bis 2019 vor allem in der Barentssee und der Karasee immer weniger Meereis gebildet wurde", berichtet Ricker.

Die Wissenschaftler simulierten das Wechselspiel zwischen Ozean, Eis, Wind und Lufttemperatur für die zurückliegenden vier Jahrzehnte mit zwei Modellen. Beide Simulationen führten zur selben Erkenntnis. „Verantwortlich sind warme Wassermassen, die aus dem Nordatlantik in den Arktischen Ozean strömen und das Eiswachstum in der Barentssee und Karasee bremsen oder sogar verhindern. Bildet sich doch neues Eis, so ist dieses deutlich dünner als früher", sagt Robert Ricker.

Diese Arbeiten wurden unter anderem im Projekt QUARCCS im Rahmen der Wissenschaftlichen-Technischen Zusammenarbeit mit Russland vom Bundesforschungsministerium gefördert. In QUARCCS werden Daten zu Eis-Herkunftsgebieten und Driftwegen zusammenzugefasst, um  Aussagen über die Rolle ozeanischer Prozesse für Eisdickenänderungen treffen zu können.

Weg der Eisschollen mihilfe von Satellitenaufnahmen verfolgt

Von ersten Anzeichen, dass die Meereseärme die Eisbildung auch in der Laptewsee bremst, berichten die AWI-Meereisphysiker in der zweiten Studie, die auch Messungen der Eisscholle der einjährigen MOSAiC-Expedition im Spätsommer 2020 beinhaltet. Darin rekonstruieren die Forschenden die Herkunft außergewöhnlich dünnen Meereises, welches sie im Sommer 2016 in der nördlichen Framstraße vom Forschungsflugzeug aus vermessen haben. Das Eis war damals gerade mal 100 Zentimeter dick und somit bis zu 30 Prozent dünner als in den Jahren zuvor – eine Differenz, die sich die Forscher zunächst nicht erklären konnten. „Um das Rätsel zu lösen, haben wir zunächst mithilfe von Satellitenaufnahmen die Driftroute des Eises zurückverfolgt. Es stammte ursprünglich aus der Laptewsee", berichtet Dr. Jakob Belter vom AWI. Anschließend überprüften die Wissenschaftler das Wetter entlang der Strecke. Doch die Atmosphärendaten zeigten für den Zeitraum von 2014 bis 2016 keinerlei Auffälligkeiten.

Die Antwort musste also im Ozean liegen – und tatsächlich: Von Januar bis Mai 2015 dokumentierten Forschende der Universität Fairbanks Alaska im Meeresgebiet nördlich der Laptewsee außergewöhnlich hohe Wassertemperaturen. Die Wärme, so weiß man heute, war mit atlantischen Wassermassen aus der Tiefe aufgestiegen und hatte das winterliche Wachstum des jungen Meereises verlangsamt. Die Meereshitzewelle muss ein so starkes Ereignis gewesen sein, dass ihre Auswirkungen auf das Dickenwachstum des Meereises bis zum Ende der Drift über den Arktischen Ozean nicht wieder ausgeglichen werden konnten.

Beide neuen Studien unterstreichen die Bedeutung von Langzeitdatenreihen für die Meereisforschung in der Arktis. „Wenn wir die Veränderungen des arktischen Meereises verstehen wollen, sind Langzeitbeobachtungen der Eisdicke mit Hilfe von Satelliten und Flugzeugen unverzichtbar. Gemeinsam mit Modelldaten zeichnen sie ein Gesamtbild mit jener Detailschärfe, die wir benötigen, um die wirklich entscheidenden Prozesse der sich verändernden Arktis zu identifizieren", sagt Jakob Belter.

Die beiden Studien

Robert Ricker, Frank Kauker, Axel Schweiger, Stefan Hendricks, Jinlun Zhang, and Stephan Paul (2021): Evidence for an increasing role of ocean heat in Arctic winter sea ice growth. Journal of Climate, DOI: https://doi.org/10.1175/JCLI-D-20-0848.1

H. Jakob Belter, Thomas Krumpen, Luisa von Albedyll, Tatiana A. Alekseeva, Sergei V. Frolov, Stefan Hendricks, Andreas Herber, Igor Polyakov, Ian Raphael, Robert Ricker, Sergei S. Serovetnikov, Melinda Webster, and Christian Haas (2021): Interannual variability in Transpolar Drift ice thickness and potential impact of Atlantification, The Cryosphere, DOI: https://doi.org/10.5194/tc-2020-305