Klimafaktor Kläranlagen: Mit KI gegen Klimagase
Kläranlagen gehören zu den größten kommunalen Stromverbrauchern und Erzeugern von Treibhausgasen. Mit einer vorausschauenden, intelligenten Steuerung des Anlagenbetriebs können Klärwerke ressourcenschonender, effizienter und damit klimafreundlicher arbeiten. Das Projekt KAbit hat dafür ein modulares Softwarepaket entwickelt, das in bestehende Systeme integriert werden kann
Kläranlagen können einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten, indem sie ihren Energieverbrauch und ihre Treibhausgasemissionen senken. Fast 20 Prozent des kommunalen Stromverbrauchs in Deutschland entfallen auf etwa 10.000 Kläranlagen. Sie sind auch für etwa ein Drittel der gesamten kommunalen Emissionen verantwortlich. Besonders kritisch ist das bei der biologischen Reinigung entstehende Lachgas (N₂O), das rund 300-mal klimaschädlicher ist als Kohlendioxid (CO₂). Mit der neuen EU-Kommunalabwasserrichtlinie steigen nicht nur die Anforderungen an die Reinigungsleistung, sondern auch an Effizienz und Nachhaltigkeit: Bis spätestens 2050 sollen Kläranlagen vollständig klimaneutral arbeiten. Um dieses Ziel zu erreichen, muss ihr Betrieb optimiert werden. Große Potenziale hierfür bieten KI-basierte Ansätze, die im Abwasserbereich bislang noch wenig verbreitet sind.
Ein digitaler Werkzeugkasten für die Praxis
Einen gezielten Vorstoß in diese Richtung hat ein Team aus Forschungseinrichtungen, Unternehmen und Praxispartnern mit dem Projekt KAbit unternommen. Das vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) in der Maßnahme KMU-innovativ geförderte Vorhaben hat ein dynamisches digitales Optimierungstool für Kläranlagen entwickelt, um Treibhausgasemissionen sowie den Energie- und Betriebsmittelverbrauch deutlich zu reduzieren – bei gleichbleibender oder sogar besserer Reinigungsleistung. Herzstück der vom Projektpartner Okeanos Smart Data Solutions GmbH unter dem Namen Okeanos.CLEAR vermarkteten Technologie ist eine KI-gestützte Zulaufprognose. Mithilfe aktueller Wetterdaten und maschinellem Lernen prognostiziert sie, wie viel Abwasser in den nächsten 48 Stunden zu erwarten ist. „Durch präzise Zuflussprognosen können Kläranlagen sich im Voraus auf erwartete Belastungsspitzen wie Starkregen vorbereiten, statt nur nachträglich zu regulieren“, sagt Projektleiter und Okeanos-Geschäftsführer Dr. Henning Oppel.
Lachgas messen, verstehen und vermeiden
Voraussetzung für diese Verbesserung war die genaue Erfassung und Analyse der Lachgasmengen, die auf einer Kläranlage entstehen. Diese fallen vor allem bei der biologischen Reinigung in den Belebungsbecken an, wo Mikroorganismen Stickstoffverbindungen abbauen. Wie viel davon freigesetzt wird, hängt stark von den jeweiligen Betriebsbedingungen ab. Bislang fehlten jedoch verlässliche Methoden zur Quantifizierung im Echtbetrieb. Häufig werden die N₂O-Emissionen anhand von Literaturwerten abgeschätzt, was jedoch zu vielen Ungenauigkeiten führt.
Unter Federführung des Ruhrverbands und in Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Natur, Umwelt und Klima Nordrhein-Westfalen führte das KAbit-Team umfangreiche Untersuchungen auf zwei verbandseigenen Kläranlagen durch. Dabei kamen verschiedene Messverfahren zum Einsatz: Einerseits erfassten Sensoren kontinuierlich die Lachgaswerte direkt im Abwasser, andererseits wurde in gezielten Messkampagnen die tatsächlich emittierte Lachgasmenge bestimmt.
Die Messungen erfolgten zu unterschiedlichen Jahreszeiten, um saisonale Einflüsse zu berücksichtigen. Die gesammelten Daten wurden mit KI überprüft und ergänzt. Im nächsten Schritt flossen sie in ein mathematisches Modell ein – einen sogenannten digitalen Zwilling der Kläranlagen. Das virtuelle Abbild, das vom Lehrstuhl für Siedlungswasserwirtschft und Umwelttechnik der Ruhr-Universität Bochum entwickelt wurde, kann Abläufe simulieren und ermöglicht Prognosen. Dank der neuen Messtechnik und Simulation konnten die N₂O-Emissionen auf den Testanlagen erstmals detailliert analysiert und gezielt reduziert werden. So zeigte sich zum Beispiel, dass die Anreicherung von Nitrit bei einer Kläranlage ein zentraler Treiber für Lachgasemissionen ist und sich durch gezielte Maßnahmen wie eine angepasste Belüftung vermeiden lässt.
Pilotanwendungen und Perspektiven
Aus Monitoring, Prognose und Steuerung ist die modulare Toolbox Okeanos.CLEAR entstanden, die sich in bestehende Anlagensteuerungen integrieren lässt. Sie ermöglicht es, Betriebsabläufe in Echtzeit zu überwachen, die gewonnenen Daten intelligent zu analysieren und auf dieser Grundlage konkrete Handlungsempfehlungen für eine Optimierung abzuleiten. Ein Prototyp der Okeanos.CLEAR-Zulaufprognose ist derzeit auf der Kläranlage Bochum-Ölbachtal im Einsatz und soll in Zusammenarbeit mit dem Ruhrverband bis zur Marktreife weiterentwickelt werden. „Das Ziel ist, die Zuflussprognose zum Ende 2025 operationell zur Verfügung zu stellen und probeweise zur Steuerung einer Anlage zu nutzen“, sagt Projektleiter Dr. Henning Oppel. Zudem gibt es weitere Interessenten, wie die Stadtentwässerungsbetriebe Köln und die Emschergenossenschaft, die die Lösung auf ihren Anlagen erproben wollen.
Eine Weiterentwicklung der Zuflussprognose hin zu einer Prognose von Schadstofffrachten im Abwasser ist ebenfalls geplant. „Da die wichtigsten Frachten aufwendig zu bestimmen sind und es insbesondere an Daten in hoher zeitlicher Auflösung mangelt, ist eine zuverlässige Frachtenvorhersage bislang nicht möglich,“ so Oppel. Mit einem neuen Sensor, der derzeit in einem weiteren Forschungsprojekt entwickelt wird, soll eine bessere Datengrundlage geschaffen werden. Dies würde künftig auch eine hochauflösende Prognose der relevantesten Zulauffrachten bei Kläranlagen ermöglichen.