Forschung zu Kipppunkten: GlobalTip-Projekte mit neuen Erkenntnissen
Wie entstehen Kipppunkte und wie lassen sie sich vermeiden? Sechs Projekte der BMFTR-Fördermaßnahme GlobalTip haben verschiedene Regionen der Welt, die zu kippen drohen, untersucht und Handlungsstrategien zum Schutz von Ökosystemen entwickelt.

Unser Erdsystem besteht aus verschiedenen, voneinander unabhängigen Elementen, welche jeweils entscheidende Rollen und Funktionen ausüben – wie der Amazonas-Regenwald, das Grönländische Eisschild oder Meeresströmungen. Wenn die Stabilitätsgrenzen dieser Elemente erreicht sind, kann es zu abrupten, schweren, möglicherweise sogar unumkehrbaren Veränderungen kommen – sie haben dann einen sogenannten Kipppunkt überschritten. Ursachen sind menschliche Eingriffe wie zum Beispiel Überfischung der Meere und großflächige Abholzung von Wäldern für landwirtschaftliche Zwecke. Der Klimawandel verstärkt diese negativen Entwicklungen und belastet die Ökosysteme zusätzlich, etwa durch immer häufigere und länger andauernde Trockenphasen. Wird ein Kipppunkt überschritten, kann dies zu Domino-Effekten für die Gesellschaft, Wirtschaft und Natur führen, die sich gegenseitig verstärken. Denn menschliche, klimatische und ökologische Systeme sind eng untereinander verbunden. Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen und Kipppunkte frühzeitig zu erkennen, startete das Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR, ehemals BMBF) 2017 die Fördermaßnahme „Kipppunkte, Dynamik und Wechselwirkungen von sozialen und ökologischen Systemen". Aktuell befinden sich die Projekte der letzten „GlobalTip"-Forschungsphase auf der Zielgrade.

Die sechs Projekte erforschten sowohl in terrestrischen als auch in aquatischen Regionen der Welt Elemente des Erdsystems, die zu kippen drohen. Vom 01.-02. Juli 2025 fand die GlobalTip-Abschlusskonferenz in Frankfurt statt, an der rund 85 Vertreterinnen und Vertreter aus Forschung und Praxis teilnahmen. Unter anderem stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von GlobalTip ihre entwickelten Anpassungsstrategien vor, die den negativen Auswirkungen menschlichen Wirtschaftens auf die Ökosysteme entgegenwirken – immer in enger Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort, die auf die Ökosysteme als direkte Lebensgrundlage angewiesen sind.

Lokale und globale Auswirkungen von Kipppunkten
Kipppunkte können sowohl regionale als auch globale Auswirkungen haben. So erforschte zum Beispiel das Projekt Humboldt-Tipping das Auftriebssystem des Humboldtstroms an der Westküste Perus. Aufgrund des natürlichen Vorgangs des „Auftriebs" vom kalten, nährstoffreichen Wasser aus der Tiefe an die Meeresoberfläche, ist dies der fischreichste Ort der Welt. Die neuen Untersuchungen des Projekts zeigen jedoch, dass die Küstengewässer Perus bis 2050 mit tiefgreifenden klimatischen und ökologischen Veränderungen konfrontiert sein werden. Diese gefährden das marine Ökosystem und bringen erhebliche Risiken für die Anpassungsfähigkeit sowohl für kleine Fischereibetriebe als auch für die industrielle Fischerei. Im Rahmen der GlobalTip-Abschlusskonferenz erklärte Dr. Renato Salvatteci vom Humboldt-Tipping-Projektteam: „GlobalTip hat entscheidend dazu beigetragen, Forschende und Akteure der Fischerei zusammenzubringen, um gemeinsam Zukunftsszenarien und Anpassungsstrategien für das gefährdete Humboldt-Auftriebsgebiet als Reaktion auf sozioökonomische und klimatische Veränderungen zu entwickeln."

Eine weitere Region, in der ein Kipppunkt droht, ist der Amazonas-Regenwald. Er ist von zentraler Bedeutung für das globale Klima und das Wettergeschehen. Besonders wichtig sind dabei die unberührten Böden des Regenwaldes: Sie speichern Wasser, versorgen Pflanzen mit Nährstoffen und sichern so die hohe Produktivität des Ökosystems. Jedoch werden diese natürlichen Funktionen durch Landnutzung und zunehmende Abholzung gestört. Dadurch verändert sich das regionale Klima – mit steigenden Temperaturen und veränderten Niederschlägen. Die Projektkoordinatorin des Projekts PRODIGY, Ana Patricia Calderón Quiñónez, stellte fest: „[...], dass der Schutz großer, artenreicher Waldflächen – insbesondere in der Nähe von landwirtschaftlich genutzten Flächen – nicht nur der Artenvielfalt im Boden dient, sondern auch eine wirksame Strategie zur Anpassung an den Klimawandel darstellt."
Neben der Vorstellung der Projektergebnisse stand während der GlobalTip Konferenz auch der Austausch zwischen den beteiligten Forschenden aus Deutschland und den Partnerländern sowie Stakeholdern der Untersuchungsregionen im Vordergrund. Die Teilnehmenden der Diskussionen waren sich einig: Kipppunkte seien keine theoretische Erfindung, sondern ökologische Realität. Klimawandel sei nicht allein dominierender Auslöser von Kipppunkten. Der gesamte sozial-ökonomisch-ökologische Komplex sei verantwortlich und müsse betrachtet werden, um Zusammenhänge richtig erfassen und nachhaltige Handlungsempfehlungen erarbeiten zu können. Dies stellt die Kipppunkteforschung vor weitere Herausforderungen und zeigt ihre Notwendigkeit. Mit der GlobalTip-Förderung des BMFTR konnte diese Forschung vorangebracht werden.
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Weitere Forschungsergebnisse von GlobalTip
Das Projekt MoreStep hat untersucht, wie die veränderte Mobilität von nomadischen Hirten mit ihren Weidetieren und die eingeschränkte Mobilität von Wildtieren die mongolische Steppe als hochsensibles Ökosystem gefährden. Würde es diese Wanderungen nicht mehr geben, kann es zum Beispiel zur Zerstörung des Graslandes durch Überweidung kommen – die Wüstenbildung wird gefördert. Außerdem tragen die Wild- und Weidetiere zum Erhalt der Steppenvegetation und zur Verbreitung verschiedener Pflanzenarten bei, was ebenfalls verhindert werden würde. Besonders wichtig aber ist die Mobilität zur Anpassung an die klimatischen Bedingungen und Veränderungen, nicht nur für die nomadisch lebenden Menschen: „In der klimatisch extremen mongolischen Steppe legen Wildtiere wie Mongolische Gazellen enorme Strecken zurück – eine einzelne Gazelle wanderte in fünf Jahren ungefähr 18.000 Kilometer. Werden diese Wanderungen durch Zäune oder Straßen unterbrochen, verlieren die Tiere eine wichtige Möglichkeit, sich an extreme Wetterereignisse anzupassen", betonte Thomas Müller vom Projekt MoreStep. Einige Lösungswege wären demnach die gänzliche Vermeidung von Zäunen beziehungsweise diese möglichst durchlässig aufzustellen sowie die Böschungswinkel von neuen Eisenbahntrassen so flach wie möglich zu halten.

In Namibia konnten Forschende des Projekts NamTip Wüstenbildung (Desertifikation) als möglichen Kipppunkt identifizieren. Denn die Böden in den trockenen Gebieten Namibias zeigen vermehrt: Es kann kein Wasser mehr zurückgehalten werden, Samen können nicht mehr keimen. Dadurch ist die Ernährungssicherheit der Bevölkerung gefährdet.
Das Forschungsteam stellte fest, dass sich unter in Feldversuchen manipulierten trockenen Bedingungen die Zusammensetzung der Pflanzenarten erheblich veränderte: mehrjährige Gräser verschwanden, Kräuter und Büsche vermehrten sich. Dies bewerteten die Forschenden ebenfalls als Hinweis auf einen Kipppunkt sowie als potentielles Frühwarnsystem für die Gesundheit von Weideland.
Die Ergebnisse des Projekts deuten darauf hin, „[...], dass sich Desertifikation nicht durch eine einzige, klar definierte Schwelle kennzeichnen lässt, sondern sich vielmehr als eine Kaskade kleinerer, miteinander verbundener Veränderungen entfaltet.", so die Leiterin des Projekts NamTip Anja Linstädter. Es gibt also keine klar definierte Grenze, ab wann die Böden unproduktiv werden und sich Wüsten bilden. Als mögliche Maßnahmen schlägt NamTip zum Beispiel die Unterstützung der Landwirtinnen und Landwirte durch Schulungen zur nachhaltigen Landnutzung vor, um eine weitere Degradation zu verhindern und eine langfristige Wiederherstellung von produktivem Weideland zu fördern.

Die westliche Ostsee spielt gerade für die kommerzielle Fischerei eine zentrale Rolle. Jedoch sind die Bestände insbesondere vom Dorsch – auch Kabeljau genannt – in dieser Region drastisch zusammengebrochen. Die Gründe liegen in der jahrzehntelangen Überfischung und den sich ändernden klimatischen Bedingungen. Hans Sloterdijk vom Projekt marEEchange appelierte: „Die Bewältigung von Kipppunkten in ausgebeuteten Fischereien erfordert ein ökosystembasiertes Management und einen vorsorglichen Ansatz, um ein Überschreiten der Kipppunkte zu vermeiden, bevor es zu spät ist und die sozioökonomischen Folgen eskalieren."

Der Viktoriasee ist der zweitgrößte Süßwassersee der Welt. Die dort betriebene Nilbarschfischerei ist eine wichtige Nahrungs- und Einkommensquelle für die wachsende lokale Bevölkerung. Das Ökosystem ist jedoch zum Beispiel durch Überfischung gefährdet. Die Forschungsergebnisse des Projekts MultiTip-ER zeigen: Ein Schlüssel, um das Ökosystem des Viktoriasees zu verbessern, liegt in neuen Fangregularien. Hierzu erklärte der Projektleiter Timo Goeschl: „Selbst in scheinbar schon gut beforschten sozioökologischen Systemen sind die Kipppunkte nicht unbedingt dort, wo man sie erwartet. Am Viktoriasee, dem größten tropischen See der Welt, finden sie sich an manchmal überraschenden Stellen. An solchen Stellen hat das Projekt MultiTip-ER neues Systemverständnis und konkrete Handlungsoptionen entwickelt. Auf Grundlage neuer Systemmodelle [schlagen wir von] MultiTip-ER dabei eine Abkehr von aktuellen Fangregeln und einen systematischen Schutz der Jungfische vor. Unkonventionell, aber in Feldversuchen erprobt, sind auch innovative ökonomische Instrumente wie Subventionen beim Kauf regelkonformer Netze und gezüchteten Köder. Solche Maßnahmen treffen auf das rege Interesse der politischen Entscheidungstragenden rund um den See."
Hintergrund zur Fördermaßnahme
Im Jahr 2015 schrieb das BMFTR (damals BMBF) die inter- und transdisziplinäre Fördermaßnahme „Kipppunkte, Dynamik und Wechselwirkungen von sozialen und ökologischen Systemen" aus – bereits drei Jahre vor der Erwähnung von Erdsystemkipppunkten durch den globalen Klimawandel im Sonderbericht zu „1,5 °C globale Erwärmung" des Weltklimarats IPCC von 2018. Durch eine Vorphase (2017 bis 2018) wurden von Anfang an Stakeholder vor Ort zur Mitgestaltung des Forschungsdesigns mit eingebunden. Das BMFTR förderte die erste Forschungsphase „BioTip" von 2017 bis 2023 mit rund 36 Millionen Euro. Die zweite Forschungsphase „GlobalTip" unterstützte das Bundesforschungsministerium von 2023 bis 2025 mit Fördermitteln in Höhe von rund 13 Millionen Euro.
Das Forschungsprogramm ist das weltweit erste große und breit ausgerichtete seiner Art, das sozial-ökologische Kipppunkte in den Fokus nimmt sowie zur Vorsorge durch konkrete Politikempfehlungen beiträgt.