Eröffnung des Wissenschaftsjahres 2015 „Zukunftsstadt“
Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung Johanna Wanka, am 19. Februar 2015 in Berlin
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Stadt ist der Lebensort der modernen Gesellschaft. In den vergangenen Jahrzehnten gab es zwischen Stadt und Land viel Bewegung. Beispielsweise sind hier in Berlin in den 1990er-Jahren gerade junge Familien in das Umland gezogen. Sie wollten die Möglichkeiten der Stadt mit dem Leben auf dem Land verbinden. Das hat sich inzwischen verändert. Sehr viele sind wieder zurückgezogen. Es ist also sehr viel in Bewegung.
In Deutschland leben zurzeit 75 Prozent der Bevölkerung in Städten. Das sind über 60 Millionen Menschen. Insgesamt lebt heute die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. 2025 werden es Prognosen zufolge schon 60 Prozent sein. Das Thema Stadt ist nicht nur in Deutschland oder in Europa, sondern generell von großer Wichtigkeit. Städte ziehen Menschen an. Doch die Nachfrage nach lebenswerten Räumen stellt die Kommunen auch vor große Herausforderungen: Umweltverschmutzung, die Leitung der Verkehrsströme, Demografie, Klimawandel, Energiesicherheit, soziales Miteinander. Das sind nur einige Aspekte.
I.
Die Stadt ist seit jeher ein Zukunftslabor. Sie ist Ort der Vielfalt und der Kreativität. Hier werden neue technologische, ökonomische und kulturelle Trends gesetzt. Die Stadt ist aber auch ein Ort, an dem Gegensätze direkt aufeinander prallen.
Es gibt die kleineren Gegensätze. Zum Beispiel die autofreien Stadtzentren. 42 Prozent der Frauen wünschen sie sich laut einer Umfrage. Von den Männern will das aber nur ein Viertel. Und es gibt die größeren Gegensätze: Offenheit und Toleranz werden immer wieder auf die Probe gestellt. Immer wieder aufs Neue muss sich das Miteinander auch dann bewähren, wenn Zuwanderung, Alterung und soziale Brüche die Stadtgesellschaft verändern.
- Es geht um die Gestaltung unserer Innenstädte, beispielsweise um Kaufen und Verkaufen,
- es geht um die Zusammenarbeit mit Investoren,
- es geht um die Ausgestaltung von Stadtvierteln,
- es geht um Mobilität,
- es geht um Kultur und Kulturen,
- es geht aber auch um Heimat und Sicherheit auf unseren Straßen und in unseren Wohnquartieren.
Diesen und noch viel mehr Fragen stellen wir uns mit der Unterstützung von Wissenschaft und Forschung.
Wir wollen das heute an zwei zentralen Initiativen deutlich machen. Das sind zum einen die Vorschläge, die die Expertinnen und Experten der Nationalen Plattform Zukunftsstadt entwickelt haben und die jetzt in eine strategische Forschungs- und Innovationsagenda einfließen.
Zum anderen starten wir heute das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt. Für das Wissenschaftsjahr suchen wir immer ein Thema von besonderer Relevanz, das den Lebensalltag betrifft. Wir wollen einen breiten öffentlichen Diskurs für die Gestaltung der Stadt von morgen und übermorgen anregen und in Gang setzen. Wir wollen dabei Chancen und Risiken von Forschungsergebnissen und technologischer Entwicklung beleuchten und auch die Ängste und Befürchtungen der Bürgerinnen und Bürger einbeziehen.
Die aktuellen Trends werfen viele Fragen auf, die mitgedacht und auch ausgesprochen werden müssen. Ich nenne ein paar Beispiele. Beim Thema Demografie denken alle an das altersgerechte Wohnen, an das altersgerechte Zuhause. Dazu ist schon ganz viel passiert. Aber es geht auch um die Veränderung bei den Bevölkerungszahlen. Es gibt Städte wie Potsdam mit einem großen Zuzug. In anderen Städten gibt es aber auch die gegenteilige Entwicklung. Es geht nicht nur um ökologisch perfekte Häuser, sondern auch um die Vernetzung der Strukturen. Es geht um Entsorgungsprobleme, wenn sich die Zahl der Einwohner verändert. Es geht um Lärm. Es geht um Mobilitätskonzepte. Aber es geht auch sehr stark um Veränderung bei der Energieversorgung.
Die Zukunftsfragen kann eine Stadtverwaltung nicht allein lösen. Man kann sie auch nicht dem sich selbst organisierenden Fortschritt überlassen. Das ist vielmehr eine Gemeinschaftsaufgabe, in die Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, aber vor allen Dingen auch die einzelnen Bürger einbezogen werden müssen. Vor Ort muss der Wandel gelingen. Und hier besteht eine große Chance in diesem Wissenschaftsjahr, Best-Practice-Beispiele zu kommunizieren.
Ich möchte dazu zwei Beispiele nennen:
Zum einen das BMBF-Programm Energieeffiziente Stadt: 70 Prozent der Emissionen werden heute in den Städten erzeugt. In dem Programm werden deshalb passgenau zu den wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten der Einwohner Konzepte zum Energiesparen entwickelt − und das mit Erfolg. Am Beispiel von Delitzsch wird sehr erfolgreich untersucht, wie man klimaschädliche Gase in den Städten deutlich reduzieren kann. Im neuen Wissenschaftsjahr werden uns noch viele solche guten Beispiele begegnen.
Das zweite Beispiel, das ich nennen möchte, befasst sich mit dem immer noch viel zu hohen Verbrauch neuer Flächen in Deutschland. Derzeit versiegeln wir täglich 129 Hektar für Gebäude und Verkehr – das ist eine Fläche so groß wie der Allerpark in Wolfsburg. Ziel der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung ist es, diese Fläche auf 30 Hektar pro Tag im Jahr 2020 zu vermindern. Unser Forschungsschwerpunkt „Forschung für die Reduzierung der Flächeninanspruchnahme und ein nachhaltiges Flächenmanagement (REFINA)“ beschäftigt sich genau mit diesen Fragen.
Wissenschaft und Forschung können einen ganz wesentlichen Beitrag zur Gestaltung unserer Städte leisten. Deswegen haben wir bereits vor zwei Jahren gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium die Initiative zur Nationalen Plattform Zukunftsstadt ergriffen. Zusammen mit den Kollegen aus dem Wirtschafts- und dem Verkehrsministerium wurde ein Forum geschaffen, in dem Wissenschaft, Wirtschaft, Kommunen und Zivilgesellschaft gemeinsam Konzepte für die Stadt der Zukunft entwickelt haben.
Dabei konnten sie auf guten Beispielen aufbauen: In der Stadt Ludwigsburg werden im BMBF-Projekt Zukunfts-Werk-Stadt neue Wohnformen und Quartiersstrukturen für Ältere entwickelt. Dort ist es auch gelungen, die älteren Menschen für weitreichende Zukunftspläne zu motivieren. Und jetzt soll es dort sogar eine stadtweite Umfrage unter Bürgern über 50 Jahren geben, wie sie sich ihre Stadt der Zukunft vorstellen.
Das Ergebnis der Arbeit von rund hundert Expertinnen und Experten in der Nationalen Plattform liegt nun als strategische Forschungs- und Innovationsagenda vor. Viele der Beteiligten sind heute hier. Ich möchte mich bei ihnen und stellvertretend auch bei den beiden Sprechern, Herrn Professor Krautzberger und Herrn Professor Spath, für diese großartige Arbeit herzlich bedanken.
Ihr Engagement begreifen wir als Auftrag.
Die durchgreifende Wirkung für den nachhaltigen Umbau unserer Städte wird sich nur dann einstellen, wenn wir in Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden alle Teile der Innovationskette verbinden. Auf Ebene des Bundes werden die Ressorts für Umwelt, Wirtschaft, Verkehr und das BMBF deshalb in den nächsten Monaten die Innovationsplattform Zukunftsstadt etablieren. Mit Blick auf diese Innovationsplattform hat mein Haus im neuen Forschungsrahmenprogramm für Nachhaltigkeit eine Leitinitiative zur Zukunftsstadt fest verankert. Wir statten sie mit 150 Millionen Euro aus.
II.
Die Stadt ist als Schauplatz bestens dazu geeignet, den Bürgerinnen und Bürgern die Relevanz von Wissenschaft und Forschung bei der nachhaltigen Gestaltung ihres alltäglichen Lebens zu verdeutlichen. Gleichzeitig wollen wir aber auch unterstreichen, dass Forschung für unsere Städte nur eine gemeinsame Arbeit von Wissenschaft und Bürgerinnen und Bürgern sein kann.
Wissenschaftsjahre schaffen zahlreiche Gelegenheiten, in denen Forscherinnen und Forscher direkt mit den Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen. Denn der Erfolg von Wissenschaft wird nicht allein im Labor erreicht, sondern im Praxistest und im Dialog mit den Menschen.
Wir bieten Kinowochen für Schülerinnen und Schüler und die Tour des Wissenschaftsschiffes MS Wissenschaft als schwimmendes Ausstellungs- und Diskussionsforum an. Daneben gibt es aber auch zahlreiche neue, kreative Angebote wie zum Beispiel Mitmachaktionen zum stadtnahen Gärtnern und Ernten und einen interaktiven Wettbewerb zu Orten des guten Lebens in unseren Städten. Das Wissenschaftsjahr schickt Kinder in ihrer Heimat auf wissenschaftliche Expeditionen. Und wir wollen Treffen von Menschen aus Mitmachwerkstätten in Gang setzen und Dichterwettstreite veranstalten. Bei all diesen Maßnahmen geht es uns immer um Mitgestaltung, Diskussion und gemeinsame Zukunftsplanung.
Im Mittelpunkt des Wissenschaftsjahres steht der Wettbewerb Zukunftsstadt, den das BMBF jetzt gestartet hat. Gemeinsam sollen Bürger, Ratsvertreter, lokale Verbände, Initiativen und Unternehmen eine nachhaltige und ganzheitliche Vision für ihre Stadt, ihren Stadtteil, ihre Gemeinde entwickeln. Wissenschaft und Forschung begleiten und unterstützen sie dabei. Beteiligen können sich bis zu 50 Kommunen. Schon heute haben wir zahlreiche Bewerbungen.
Im April werden die Teilnehmer ihre Konzepte vorstellen. Sie sind die Grundlage für ein Programm, in dem die Forschung die Städte auf dem Weg in die nachhaltige Zukunft begleiten wird. Die starke Nachfrage nach unserem Wettbewerb zeigt, wie viele Städte sich schon auf den Weg in eine nachhaltige Zukunft gemacht haben.
III.
Ich bin überzeugt davon, dass dieses Wissen und die Erfahrung dann auch auf Städte weltweit ausstrahlen können. Wobei es bei uns in Deutschland natürlich um die typische europäische Stadt unterschiedlichster Größenordnung geht. Wir sind aber, wenn es um die Fragen wie Klimaschutz, Mobilität und Versorgung von Städten geht, auch ein Land, in dem grundlegende Forschung für die Entwicklung von großen Mega-Citys läuft.
Mit China haben wir erstmals einen internationalen Partner im Wissenschaftsjahr. In China gibt es 650 Städte, zehn von ihnen haben mehr als 4 Millionen Einwohner, in weiteren zwanzig Städten leben zwischen zwei und vier Millionen Menschen. Es gibt vielfältige Forschungskooperationen. Deswegen war es richtig, an dieser Stelle zu sagen: Wir machen das Thema Zukunftsstadt nicht nur für uns hier in Deutschland.
Im Mittelpunkt dieser internationalen Kooperation stehen natürlich Fragen wie Wasserversorgung und Wassertechnik. Wassertechnologie aus Deutschland ist international ein Spitzenreiter. Es geht aber eben auch um Luftverschmutzung und anderes. Es gibt zum Auftakt am 8. Mai eine Konferenz in Shanghai zur nachhaltigen Urbanisierung.
Damit die Zukunftsstadt keine Angelegenheit von Fachleuten und Experten bleibt, schaffen wir mit dem Wissenschaftsjahr in der breiten Öffentlichkeit ein besseres Verständnis für die großen Chancen, die Stadt der Zukunft menschlich und lebenswert zu gestalten.
Ihre Anwesenheit heute hier ist ein klares Signal dafür, dass nachhaltige Stadtentwicklung und Forschung zusammen gehören.
Vielen Dank.