Folgen des Klimawandels: Grönland-Gletscher wird instabil
Seit Mitte der 1990er Jahre verliert der grönländische Eisschild an Masse, seitdem sind nur noch drei schwimmende Zungen übriggeblieben. Eine davon, der sogenannte 79°N-Gletscher, wird laut den wissenschaftlichen Beobachtungen immer instabiler. Im Rahmen des vom BMFTR geförderten Projekts GROCE 2 haben Forschende des Alfred-Wegener-Instituts einen 21 km2 großer Schmelzwassersee auf der Oberfläche des Gletschers untersucht. Dieser verursachte im Laufe der Jahre gigantische Risse im Eis. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in der Fachzeitschrift The Cryosphere.
Der See taucht das erste Mal in den Beobachtungsdaten im Jahr 1995 auf. „Es gab in diesem Gebiet vor dem Anstieg der atmosphärischen Temperaturen keine Seen“, sagt Prof. Angelika Humbert, Glaziologin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Vom Zeitpunkt des Entstehens bis zum Jahr 2023 ist das Wasser des Sees immer wieder und teilweise abrupt über Kanäle und Risse im Eis abgelaufen, wodurch massive Mengen an Süßwasser Richtung Ozean gelangten.“ Vier solcher Entwässerungen ereigneten sich in den letzten fünf Jahren.
Schmelzsee von 21 Quadratkilometern
Bei diesen Drainagen bildeten sich ausgedehnte Bruchfelder mit Rissen im Eis. Einige dieser Risse formen Kanäle mit Öffnungen, die mehrere Dutzend Meter breit sind (Moulins) und durch die auch nach der Hauptentwässerung des Sees Wasser abfließt. So gelangt innerhalb von Stunden eine riesige Menge Wasser an die Basis des Eisschildes. „Wir haben nun erstmals die Kanäle gemessen, die im Eis bei der Drainage entstehen und wie sie sich über die Jahre verändern“, berichtet Humbert.
Mit etwa 21 Quadratkilometer hat der See jetzt aber immer noch die Größe der Möhnetalsperre, einer der größten Talsperren Deutschlands. In den letzten Jahren traten die Drainagen in immer kürzeren Abständen auf. Hierbei spielt das Materialverhalten des Gletschers eine Rolle: Denn einerseits verhält sich das Eis wie eine extrem dickflüssiges Fluid, das langsam über den Untergrund fließt. Gleichzeitig ist es aber auch elastisch, so dass es sich verformen und wieder in seine ursprüngliche Form zurückkehren kann, ähnlich wie ein Gummiband. Durch die feste Natur des Eises können Risse und Rinnen überhaupt erst entstehen.
Schmelzwasser hebt Gletscher an
Auf einigen Luftbildern konnten die Forschenden Schatten entlang der Risse sehen. „In einigen Fällen ist das Eis an den Bruchflächen auch in der Höhe verschoben, so als ob es auf der einen Seite des Moulins mehr angehoben ist als auf der anderen“, sagt Angelika Humbert. Die größte Verschiebung findet sich direkt im See. Das liegt an den enormen Wassermassen, die durch die Risse unter den Gletscher gelangen. Radarbilder aus dem Inneren zeigen, dass sich auf diesem See unter dem Eis offenbar eine Blase gebildet hat, die den Gletscher an dieser Stelle nach oben drückt.
Messungen aus der Luft
In ihrer Studie haben die Forschenden Daten aus verschiedenen Messungen analysiert. Anhand von Satellitendaten und Daten aus luftgestützten Vermessungen konnten sie untersuchen, wie sich der See füllt, entwässert und welche Wege das Wasser im Gletscher nimmt. Mit viskoelastischen Modellierungen konnten sie nachvollziehen, ob und wie sich Abflusswege im Laufe der Zeit schließen. Die Ergebnisse werfen die Frage auf: Haben die häufigen Drainagen das Gletscher-System in einen neuen Zustand gezwungen oder kann das System trotz dieser extremen Mengen an Wasser zu einem normalen Winterzustand zurückfinden? „In nur zehn Jahren haben sich bei den Drainagen wiederkehrende Muster und eine Regelmäßigkeit entwickelt, mit massiven und abrupten Veränderungen des Schmelzwassereintrags auf einer Zeitskala von Stunden bis Tagen“, sagt Angelika Humbert.
Die Studie liefert wichtige Daten, um Risse in Eisschildmodelle zu integrieren und zu erforschen, wie sie sich bilden und den Gletscher beeinflussen. Bei den Modellierungen arbeiten die AWI-Forschenden eng mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der TU Darmstadt und der Universität Stuttgart zusammen. Das Verhalten und die Auswirkungen der Risse im Gletscher zu verstehen und zu berücksichtigen ist vor allem wichtig, wenn man sich die Entwicklung des Sees auf dem 79°N-Gletscher anschaut: Durch die voranschreitende Erwärmung der Atmosphäre sind die Bruchflächen immer weiter hangaufwärts aufgetreten, sodass eine immer größere Fläche des Gletscher betroffen ist.
Originalpublikation
Humbert, A., Helm, V., Zeising, O., Neckel, N., Braun, M. H., Khan, S. A., Rückamp, M., Steeb, H., Sohn, J., Bohnen, M., and Müller, R.: Insights into supraglacial lake drainage dynamics: triangular fracture formation, reactivation and long-lasting englacial features, The Cryosphere, 19, 3009–3032, https://doi.org/10.5194/tc-19-3009-2025, 2025.