Neue Hinweise auf hohes Erdbebenrisiko für Istanbul

Ein französisch-deutsch-türkisches Vermessungsnetz liefert bisher einzigartige Daten aus dem Marmarameer, die ein hohes Erdbebenrisiko in der Millionenstadt bestätigen.

Die Beobachtung von Erdplattenbewegungen unter Wasser war bisher kaum möglich, da Satellitennavigation dort nicht funktioniert. Neuartige Vermessungssysteme, die auf Abstandsmessung per Schall basieren, sollen diese Forschungslücke schließen. Geophysiker des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel betreiben zusammen mit französischen Kollegen ein solches geodätisches Messnetz im Marmarameer. Jetzt veröffentlicht das Team erste Daten in der internationalen Fachzeitschrift Geophysical Research Letters. Sie bestätigen ein hohes Erdbebenrisiko für die Millionenstadt Istanbul.

Istanbul ist mit mehr als 14 Millionen Einwohnern nicht nur das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Türkei, sondern auch eine der größten Metropolregionen Europas. Unglücklicherweise steht die Stadt auf einem geologischen Pulverpass. Im Verlauf ihrer Geschichte richteten starke Erdbeben immer wieder schwere Zerstörungen an. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts herrscht in direkter Umgebung Istanbuls zwar relative Ruhe, doch verschiedene Anzeichen weisen darauf hin, dass die Gefahr eines starken Bebens wieder steigt.

Ein Team aus französischen, deutschen und türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat deshalb 2014 im Marmarameer ein neuartiges Vermessungsnetz aufgebaut, das die Bewegungen des Meeresbodens beobachtet. In der internationalen Fachzeitschrift Geophysical Research Letters veröffentlicht das Team jetzt erste Ergebnisse der Messkampagne. „Sie deuten darauf hin, dass sich große Spannungen im Untergrund aufbauen, die sich früher oder später in einem Erdbeben entladen werden“, sagt Prof. Dr. Heidrun Kopp vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, eine der Co-Autorinnen der Studie.

Der Grund für das hohe Erdbebenrisiko in Istanbul ist die Nordanatolische Verwerfung. Die Arabische Erdplatte drückt Anatolien nach Norden gegen die Eurasische Erdplatte. Anatolien weicht dabei aus und schiebt sich an der Eurasischen Platte entlang nach Westen. Die Störungszone erstreckt sich über 900 Kilometer von der Osttürkei bis in die Ägäis. Im Jahr 1999 fielen nur 75 Kilometer östlich von Istanbul rund um die Stadt Izmit 18.000 Menschen einem Erdbeben mit der Magnitude 7,6 zum Opfer.

„Wir können die Verhältnisse von Izmit aber nicht eins zu eins auf Istanbul übertragen. Einzelne Segmente der Störung können sich durchaus unterschiedlich verhalten. Um eine Gefahrenabschätzung für Istanbul treffen zu können, müssen wir wissen, ob die Platten in dem entsprechenden Segment einfach aneinander vorbei gleiten, oder ob sie sich verhaken und dabei Spannungen aufbauen“, erklärt der Geophysiker Dr. Dietrich Lange vom GEOMAR, ebenfalls Co-Autor der Studie.

Doch während die Bewegungen der Platten in Anatolien problemlos mit Satellitennavigationsgeräten auf wenige Millimeter genau vermessen werden können, funktioniert dieses System bei Istanbul nicht. Dort verläuft die Störung durch den Meeresboden des Marmarameers, also rund 800 Meter unter der Wasseroberfläche. Satellitennavigationsgeräte haben dort keinen Empfang. Daher hat das französisch-deutsch-türkische Team im Jahr 2014 mit dem französischen Forschungsschiff POURQUOI PAS? nördlich und südlich der Störung neuartige Vermessungsgeräte auf dem Meeresboden installiert. Sie messen per Schall den Abstand zueinander und registrieren so, ob sich die Platten gegeneinander verschieben. Mit Hilfe des deutschen Forschungsschiffs POSEIDON wurden die ersten Daten später ausgelesen.

„Da es sich bei der marinen Geodäsie um ein ganz neues Verfahren handelt, mussten wir zunächst Verfahren entwickeln, die Rohdaten zu analysieren. Doch die bisherigen Ergebnisse zeigen übereinstimmend, dass sich die beiden Platten so gut wie gar nicht gegeneinander bewegen. Das heißt, die Spannungen im Untergrund bauen sich weiterhin auf“, betont Dr. Lange.

Jetzt warten die Beteiligten auf weitere Messdaten. Das Geodäsie-Netz bleibt noch bis 2019 am Boden des Marmarameers. „Je länger der Zeitraum, desto zuverlässiger die Aussagen, die wir treffen können“, sagt Professorin Kopp. Doch, so die Geophysikerin weiter, schon jetzt sei der erkennbare Trend belastbar: „Landgestützte Messungen und andere Messgeräte bestätigen die Daten unserer Geräte. Die Erdbebengefahr für Istanbul ist hoch.“

Originalarbeit:
Sakic, P., H. Piété, V. Ballu, J.-Y. Royer, H. Kopp, D. Lange, F. Petersen, S. Özeren, S. Ergintav, L. Geli, P. Henry and A. Deschamps (2016): No significant steady-state surface creep along the North Anatolian fault offshore Istanbul: results of 6 months of seafloor acoustic ranging. Geophysical Research Letters, http://dx.doi.org/10.1002/2016GL069600

Hintergrundinformationen:
An der Marinen Geodäsie im Marmarameer sind beteiligt das Domaines Océaniques Laboratory (Brest, Frankreich), das Laboratoire Littoral Environnement et Sociétes (La Rochelle, Frankreich), das Centre Européen de Recherche et d’Enseignement de Géosciences de l’Environnement (Aix en Provence, Frankreich), das Eurasian Institute of Earth Sciences of the Technical University of Istanbul (Türkei), das Kandilli Observatory and Earthquake Research Institute of University of Bogazici (Istanbul, Türkei) und das GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel.