Flutkatastrophe 2021: Wie kann Wissenschaft den Aufbau in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen unterstützen?
Prof. Dr.-Ing. Holger Schüttrumpf erklärt im Interview, warum es nach der Flutkatastrophe vom Sommer 2021 wichtig ist, den Aufbauprozess wissenschaftlich zu begleiten, und wie die vom BMBF geförderte Initiative KAHR die Akteure vor Ort unterstützt.
Prof. Dr.-Ing. Holger Schüttrumpf forscht am Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft (IWW) an der RWTH Aachen (Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen). Als Mitglied im wissenschaftlichen Gremium der FONA-Fördermaßnahme KAHR („Wissenschaftliche Begleitung der Wiederaufbauprozesse nach der Flutkatastrophe – Klimaanpassung, Hochwasser und Resilienz") übernimmt er die Rolle des Sprechers für Nordrhein-Westfalen. Er sagt: „Hochwasserschutz ist eine Gemeinschaftsaufgabe."
Herr Schüttrumpf, das BMBF hat nach der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen für die wissenschaftliche Begleitung des Neuaufbaus die Sofortmaßnahme KAHR initiiert. Wieso ist es sinnvoll, auch die Forschung beim Aufbau mit an Bord zu holen?
Im Rahmen vieler Forschungsvorhaben konnten wir in den letzten Jahrzehnten unser Wissen zu Hochwasserereignissen und zu einem wirksamen Hochwasserschutz erheblich erweitern. Jetzt möchten wir diese Kenntnisse zum Beispiel aus der Klima-, Risiko- und Bauforschung sowie der Stadt- und Raumplanung in den Aufbau der betroffenen Gebiete an den Flüssen Ahr, Erft, Inde und Vicht einfließen lassen. Unser Ziel ist es, durch das Einbeziehen der Forschung den Aufbau so zu gestalten, dass die Regionen in Zukunft besser gegen die Folgen des Klimawandels gewappnet sind. Es ist also nicht nur ein Wiederaufbau, sondern sollte vor allem auch ein Neuaufbau sein.
Wenn Sie in den betroffenen Regionen unterwegs sind: Mit welchen Akteuren tauschen Sie sich aus?
Hochwasserschutz ist eine multidisziplinäre Aufgabe, bei der viele Akteure eingebunden werden müssen - eine Gemeinschaftsaufgabe also. Es reicht nicht aus, wenn Hochwasserschutz ausschließlich aus der Wasserwirtschaft heraus betrieben wird. Um Hochwasserschutz effektiv planen und umsetzen zu können, müssen wir die an einen Fluss angrenzenden Flächen betrachten. Wenn dort Maßnahmen umgesetzt werden sollen, benötigen wir die Akzeptanz vieler Akteure und auch der Bevölkerung, die im Einzugsgebiet eines Flusses arbeitet und lebt.
Im KAHR-Projekt haben wir den Wasserverband Eifel-Rur und den Landkreis Ahrweiler als Praxispartner direkt eingebunden und führen mit der Raum- und Stadtplanung, der Land- und Forstwirtschaft, der Industrie, den Kommunen, den Wasser- und Energieversorgern sowie mit weiteren Akteuren konstruktive Dialoge. Im Gespräch mit den lokalen Akteuren erarbeiten wir Lösungen und Maßnahmen, wir nehmen aber auch Vorschläge aus den Regionen an. Durch den breiten Dialog wollen wir sicherstellen, dass neben dem Wiederaufbau auch dem zukünftigen Hochwasserschutz eine hohe Priorität zukommt. Aktuell treffen sich am 27. und 28. Januar alle 13 Projektpartner aus Wissenschaft und Praxis. Wir sprechen über die inhaltliche Ausrichtung im Hinblick auf die bis dahin ermittelten tatsächlichen Bedarfe der Regionen und diskutieren die nächsten Schritte.
Und wie werden Sie die Betroffenen vor Ort unterstützen?
Wir wollen versuchen, alle Privatleute in den Gebieten und insbesondere die Betroffenen zu erreichen. Dazu wird das HochwasserKompetenzCentrum mit seinem Hochwassermobil in den betroffenen Kommunen unterwegs sein, um diese Personen zu beraten und die Eigenvorsorge zu stärken. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des HochwasserKompetenzCentrum beraten und unterstützen beim privaten Hochwasserschutz. Denn Eigenvorsorge ist ein ganz wichtiges Element eines zukunftsweisenden Hochwasserschutzes!
Aus Ihrer heutigen Sicht: Wie könnten wirkungsvolle Maßnahmen für einen modernen Hochwasserschutz aussehen?
Wir brauchen eine Kombination von Maßnahmen: Dazu gehören der Wasserrückhalt in der Fläche, Raum für den Fluss, Objektschutz und Eigenvorsorge. Auch der Verbesserung der Warnung kommt eine zentrale Rolle zu. Wir forschen hier an einer Kombination aus Wetterradaren, computergestützten Überflutungsmodellen und künstlicher Intelligenz, um schnell und mit hoher räumlicher sowie zeitlicher Auflösung punktgenaue Warnungen durchführen zu können und so die Bevölkerung frühzeitig zu erreichen. Und im Rahmen des BMBF-Projektes „HoWas2021" befassen wir uns mit Risikovorhersagen, Krisenkommunikation sowie Katastrophenmanagement im Rahmen der Flutkatastrophe 2021.
In Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen haben die extremen Regenfälle insbesondere kleinere Flüsse getroffen, deren Sturzfluten dann ganze Ortschaften verwüstet haben. Was ist über das Risikopotenzial von kleinen Flüssen bekannt und wie verändert es sich durch den Klimawandel?
Kleine Bäche und Flüsse haben eine ganz andere Abflusscharakteristik als unsere großen Flüsse. In kürzester Zeit steigen die Wasserstände schnell an und aus einem harmlosen Bach wird plötzlich und unerwartet ein reißender Strom. Aufgrund der hohen Strömungsgeschwindigkeiten sehen wir dann häufig Schäden am Mauerwerk oder sogar vollständig zerstörte Gebäude. Klimaszenarien deuten darauf hin, dass die Häufigkeit schwerer Hochwasserereignisse in Zukunft zunehmen wird. Hatten wir im letzten Jahrhundert vielleicht nur ein schweres Hochwasserereignis in einer Region, so könnten es in Zukunft vielleicht zwei oder drei Ereignisse sein. Daher ist es wichtig, sich schon heute für das zu wappnen, was künftig auf uns zukommen könnte.
Was muss aus Ihrer Sicht langfristig – auch über das KAHR-Projekt hinaus – umgesetzt werden, damit weitere Flutkatastrophen wie im Sommer 2021 in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz abgewendet werden können?
Das oberste Ziel muss es sein, dass sich in Zukunft eine Katastrophe wie im vergangenen Jahr nicht wiederholt. Hochwasserereignisse werden wir nicht vermeiden können, aber die Folgen können wir begrenzen – und das nicht nur in NRW und Rheinland-Pfalz, sondern in allen Regionen Deutschlands.
Um möglichst wirksame Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen, müssen wir aus dem Hochwasserereignis im Juli 2021 lernen. So haben sich für uns neue Forschungsfragen ergeben, wie zum Beispiel die Einflüsse von Landnutzung, Klimawandel und Brücken auf extreme Hochwasserereignisse. Diese Fragen wollen wir im KAHR-Projekt direkt mit aufnehmen – für einen klimaresilienten Neuaufbau der aktuell betroffenen Regionen und zum Schutz weiterer Gebiete, die zukünftig von Starkregenereignissen bedroht werden könnten.
Herr Schüttrumpf, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Hintergrund
Prof. Dr.-Ing. Holger Schüttrumpf vom Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft der RWTH Aachen (IWW) ist Mitglied im wissenschaftlichen Gremium der Sofortmaßnahme KAHR und darin Sprecher für Nordrhein-Westfalen. Um die Kommunikation und Beratung der betroffenen Regionen zu ermöglichen, wurden im Januar 2022 in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen jeweils Projektbüros etabliert: Das Projektbüro in Rheinland-Pfalz wird vom IQIB Institut für qualifizierende Innovationsforschung und -beratung in Bad Neuenahr-Ahrweiler betreut, in Nordrhein-Westfalen von der RWTH Aachen. Für den gesamten Verbund mit insgesamt 13 Partnern stellt das BMBF rund fünf Millionen Euro Fördermittel bereit.
In Nordrhein-Westfalen wurden die Einzugsgebiete von Inde und Vicht mit den Städten Stolberg und Eschweiler als Pilotgebiete für KAHR ausgewählt. Pilotgebiet in Rheinland-Pfalz ist die Verbandsgemeinde Altenahr inklusive des Ahr-Einzugsgebiets.
Zur Person
Prof. Dr.-Ing. Holger Schüttrumpf ist Lehrstuhlinhaber und Leiter des Instituts für Wasserbau und Wasserwirtschaft (IWW) an der RWTH Aachen (Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen).
Er studierte von 1987 bis 1993 Bauingenieurwesen an der Technischen Universität Braunschweig und promovierte dort 2001. Von 2001 bis 2007 war er an der Bundesanstalt für Wasserbau an der Dienststelle Hamburg tätig. Seit 2007 hat er die Professur am IWW der RWTH Aachen inne.