Atmosphäre im Wandel: Einfluss kurzlebiger Bestandteile aufs Klima

Feinstaub, Spurengase, Wolken – viele Bestandteile der Atmosphäre beeinflussen das Klima. Wie künftig Vorhersagen für Klima und Luftqualität durch neue Messungen verbessert werden sollen, erklärt ACTRIS-D-Koordinatorin Dr. Ulla Wandinger im Interview.

Dr. Ulla Wandinger forscht am Leibniz-Institut für Troposphärenforschung (TROPOS) in Leipzig und koordiniert den Aufbau des deutschen Beitrags zur EU-Forschungsinfrastruktur ACTRIS, für den das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) insgesamt 86 Millionen Euro Fördermittel bereitstellt. Das Kürzel ACTRIS steht für "Aerosols, Clouds and Trace Gases Research Infrastructure" (dt: Forschungsinfrastruktur für Aerosole, Wolken und Spurengase) und ist eine neue europäische Forschungsinfrastruktur, die sogenannte kurzlebige Atmosphärenbestandteile untersucht – also Aerosole wie Feinstaub, Seesalz, Wüstenstaub oder Rauch, aber auch Wolken und reaktive Spurengase.

Frau Wandinger, wenn es um die Auswirkungen des Klimawandels geht, dreht es sich vor allem um die Effekte von Treibhausgasen, wie Kohlendioxid (CO2) oder Methan. Warum ist es so wichtig, auch die Rolle von Aerosolen, Spurengasen und Wolken zu erforschen?

Treibhausgase sind langlebige Bestandteile der Atmosphäre, die sich anreichern und im Laufe der Zeit relativ gleichmäßig global verteilen. Aerosole, Wolken und reaktive Spurengase sind im Gegensatz dazu kurzlebig. Sie haben vielfältige Quellen, wandeln sich schnell um und werden innerhalb von Minuten bis Wochen wieder aus der Atmosphäre entfernt. Ihre Verteilung ist daher sehr ungleichmäßig und ihre Wirkung auf das Klima aufgrund zahlreicher möglicher chemischer und physikalischer Wechselwirkungen komplex. Solche chemischen und physikalischen Prozesse können der Klimaerwärmung entgegenwirken, andere können sie verstärken. Das macht die kurzlebigen Bestandteile zum größten Unsicherheitsfaktor bei der Vorhersage der künftigen Entwicklung des Klimas. Mit ACTRIS wollen wir dazu beitragen, diese Unsicherheiten zu verringern und Wissenslücken zu schließen, indem wir ein möglichst umfassendes Beobachtungsnetz für Langzeitmessungen aufbauen und diese um gezielte Prozessstudien ergänzen.

 

Die neue europäische Forschungsinfrastruktur ACTRIS nimmt Feinstaubpartikel, Wolken und Spurengase in den Blick. Welchen Beitrag leistet hierbei Deutschland?

Deutschland hat unter allen beteiligten Ländern den größten Anteil an ACTRIS, der etwa 20 Prozent der europäischen Forschungsinfrastruktur ausmacht. Die elf deutschen Partnerinstitutionen, die in ACTRIS-D zusammenarbeiten, betreiben 14 feste und fünf mobile Beobachtungsstationen, fünf atmosphärische Simulationskammern für Prozessstudien und 12 Kalibrierlabore für die Qualitätssicherung. Wir stärken damit die Atmosphärenforschung in Deutschland und Europa, liefern hochwertige Daten und neue Erkenntnisse, die vielfältig nutzbar sind. Sie dienen zur verbesserten Vorhersage von Klima, Wetter und Luftqualität sowie für die Planung und Bewertung gezielter Maßnahmen gegen die Folgen des Klimawandels und der Luftverschmutzung. Davon profitieren Wissenschaft, politische Entscheidungsträger und nicht zuletzt die Bürgerinnen und Bürger.

An ACTRIS sind 22 europäische Länder beteiligt. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?

Die Zusammenarbeit ist sehr fruchtbar und vielfältig. Viele Beteiligte arbeiten seit Jahrzehnten zusammen, haben die Vision von ACTRIS gemeinsam entwickelt und blicken nun, da es für ACTRIS eine langfristige Perspektive in Europa gibt, voller Zuversicht und Tatendrang in die Zukunft. Wir planen und realisieren gemeinsame Forschungsprojekte, bauen europäisch vernetzte Kalibrierlabore auf, entwickeln neue Mess- und Analyseverfahren, präsentieren unsere wissenschaftlichen Ergebnisse auf internationalen Konferenzen und organisieren die Weiterbildung unseres wissenschaftlichen und technischen Personals. Alle gemessenen Daten werden in einer gemeinsamen Datenbank zusammengetragen und öffentlich zur Verfügung gestellt. Unsere exzellent ausgestatteten Einrichtungen stehen internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für Forschungs- und Entwicklungsprojekte offen. Das eröffnet vielfältige Möglichkeiten der Kooperation.

Forschung gelingt nicht im Eiltempo. Welche Meilensteine sind für Sie entscheidend und bis wann erwarten Sie konkrete Ergebnisse?

Der Aufbau neuer Messstationen und Labore, den wir jetzt in Angriff nehmen, wird uns vor allem die nächsten vier Jahre beschäftigen; danach wird ACTRIS als Forschungsinfrastruktur voll betriebsfähig sein. Neue Geräte müssen beschafft, getestet und kalibriert werden. Die aufgenommenen Daten werden dann zunächst qualitätsgeprüft und erst danach für wissenschaftliche Studien verwendet. Um langfristige Veränderungen in der Atmosphäre zu erkennen, benötigen wir Datensätze, die über Jahrzehnte mit gleichbleibend hoher Qualität erhoben werden. Das erfordert Geduld und Sorgfalt, ist aber zum Glück nur eine Seite von ACTRIS. Wir nutzen und verbessern auch existierende Messnetze, mit denen wir bereits jetzt in der Lage sind, die Atmosphäre in Echtzeit zu vermessen und täglich neue Ergebnisse zu produzieren. Wenn uns beispielsweise Saharastaubwolken überqueren, Waldbrände ihren Rauch über Europa ziehen lassen oder ein Vulkanausbruch seine Aschewolken zu uns lenkt, dann funktioniert das Beobachtungs- und Messnetzwerk ACTRIS wie die Feuerwehr und stellt Daten sofort für die Weiterverarbeitung in Modellen und die Information der Öffentlichkeit zur Verfügung. Auch diese Fähigkeiten werden wir in den nächsten Jahren weiter ausbauen.

Was ist Ihr größter Ansporn für ein möglichst erfolgreiches Vorhaben?

Mit den Investitionen in ACTRIS-D schaffen wir die Grundlage für die langfristige Beobachtung und das Verständnis der Folgen des Klimawandels für unsere Atmosphäre und damit für unsere Gesellschaft. In Zukunft können wir auch die Wirkung politischer Klimaschutzmaßnahmen besser bewerten. Ein solches Ziel in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus mehr als 100 europäischen Forschungseinrichtungen zu verfolgen, ist eine große Herausforderung. Größter Ansporn in der Wissenschaft ist und bleibt am Ende die Neugier auf die Ergebnisse, das Zusammenbringen der vielen Puzzleteile, die Nutzung der vielfältigen neuen Forschungsmöglichkeiten, die uns diese exzellent ausgestattete Forschungsinfrastruktur bieten wird.

Am 21. Juni 2022 fand in Leipzig die Auftaktveranstaltung zu ACTRIS-D mit Vertreterinnen und Vertretern aller beteiligten Institutionen statt. Was nehmen Sie aus den Diskussionen mit?

Optimismus und Motivation für die kommenden Aufgaben! Wir haben in den letzten Jahren viel diskutiert und geplant. Diese Zeit ist nun vorbei. Jetzt können wir mit der Umsetzung der verschiedenen Vorhaben beginnen. Damit rückt auch die wissenschaftliche Arbeit wieder mehr in den Fokus. Alle Beteiligten sind mit großem Engagement und viel Enthusiasmus bei der Sache.

 

Frau Wandinger, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Hintergrund zu ACTRIS und ACTRIS-D

Der Klimawandel ist ein globales Phänomen. Die internationale Zusammenarbeit ist daher grundlegend für eine erfolgreiche Klimaforschung. Die europäische Forschungsinfrastruktur ACTRIS hat zum Ziel, bisher noch wenig erforschte flüchtige Spurengase, Aerosole und Wolken sowie ihre Wirkung auf die Luftqualität und das Klima zu untersuchen. ACTRIS-D ist der deutsche Beitrag zu ACTRIS. Die Aufbauphase für ACTRIS-D umfasst den Zeitraum von 2021 bis 2029, in dem das BMBF insgesamt 86 Millionen Euro zur Verfügung stellt.

Zur Person

Dr. Ulla Wandinger arbeitet als Physikerin am Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig. Ihr Spezialgebiet ist die Laserfernmessung von Aerosolen und Wolken. Seit 2000 war sie am Aufbau eines europäischen Aerosol-Messnetzes beteiligt, das heute Teil von ACTRIS ist. Als Koordinatorin von ACTRIS-D leitet sie einen Verbund von neun deutschen Forschungsinstitutionen und zwei Behörden zum Aufbau des deutschen Beitrags zur europäischen Forschungsinfrastruktur für Aerosole, Wolken und Spurengase.