Mehr Resilienz gegen Hochwasser: KAHR-Expertenteam berät Kommunen und Wirtschaft zur Hochwasser- und Starkregenvorsorge

Das BMBF-Projekt KAHR hilft beim Wiederaufbau nach der Flut in NRW und Rheinland-Pfalz. Praxispartnerin Susanne Kozerke und Wissenschaftler Prof. Dr. Stefan Greiving erklären, wie das Schadensrisiko durch Hochwasserereignisse minimiert werden kann.

Ein sanftes Rauschen. Mehr ist nicht zu hören, während sich die Vicht ihren Weg flussabwärts durch die Innenstadt von Stolberg bahnt. Heute ist der Wasserstandspegel im „Normalbereich". Im Juli 2021 wurde der Mittelgebirgsbach Vicht wie auch viele andere kleine Flüsse und Bäche in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zu reißenden Gewässern.

Starkregen und Hochwasser können zu schnellen und anhaltenden Überschwemmungen führen. Sie stellen eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit und das Leben der Menschen sowie für die Infrastruktur in den betroffenen Gebieten dar. Bei Bebauungen ohne ausreichende Hochwasservorsorge besteht die Gefahr schwerer Schäden. Infolge der zunehmenden Versiegelung stehen weniger Flächen zur Verfügung, auf denen das Wasser versickern oder zurückgehalten werden kann. In dicht besiedelten Tälern sowie an Flussufern steigt das Risiko von Schäden, die durch Hochwasser verursacht werden, exponentiell an. Durch sorgfältige Planung und den Einsatz von technischen Hochwasserschutzmaßnahmen, durch intelligente naturräumliche Planungsstrategien sowie durch die Stärkung der Eigenvorsorge können hochwasserbedingten Schäden deutlich reduziert werden.

Drei Hochwasserspitzen treffen Stolberg am 14. und 15. Juli 2021 – jede übertrifft die vorherige, ein bis dahin unbekanntes und unvorstellbares Ausmaß. „Bei diesem extremen Starkregen- und Hochwasserereignis sprechen wir von einem Extremereignis, mit Niederschlagsmengen im Einzugsgebiet der Vicht von stellenweise über 223 mm innerhalb von 72 Stunden – damit lag es deutlich über dem sogenannten HQ100 (siehe Infobox). Andere Städte und Regionen hat es ähnlich oder sogar noch stärker getroffen", erklärt Susanne Kozerke vom Wasserverband Eifel-Rur (WVER). „Die natürlichen und technischen bzw. infrastrukturellen Abfluss-Möglichkeiten sind an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen." Als Gebietshydrologin entwickelt, berechnet und prüft sie schon weit vor der Flutkatastrophe 2021 datenbasiert und interdisziplinär passende Hochwasservorsorge- und Schutzmaßnahmen. Heute ist sie Teil eines großen Expertenteams: Im KAHR-Projekt arbeiten – neben dem WVER – zwölf weitere Forschungsinstitutionen und Praxispartner. Sie begleiten gemeinsam den Wieder- und Neuaufbau der Flutregionen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Das KAHR-Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert; die Abkürzung steht für: Klima-Anpassung, Hochwasser und Resilienz. Ein Schwerpunkt ist die Beratung von verschiedenen Akteuren – wie zum Beispiel von betroffenen Kommunen, Unternehmen sowie der Bevölkerung.

Auch Prof. Dr. Stefan Greiving von der Technischen Universität Dortmund ist Teil des KAHR-Teams. Als Leiter des Instituts für Raumplanung IRPUD beschäftigt er sich schon lange mit raumbezogener Risiko- und Klimafolgenforschung. Er pflichtet Susanne Kozerke bei: „Jetzt beim Wieder- und Neuaufbau muss das Thema Hochwasservorsorge direkt mitgedacht und geplant werden, um solche Schäden – wenn nicht ganz zu verhindern, dann mindestens – zu reduzieren. Gerade in den kleinen Kommunen sehen wir, dass der Beratungsbedarf am größten ist. Denn in den kleinen Verwaltungen gab es bislang kein Personal, das hierzu das benötigte Fachwissen hatte."

„An erster Stelle stehen immer Überlegungen, was wie stark geschützt werden muss, und Entscheidungen, wo welche Abflüsse schadlos abgeführt und wo Überflutungen in welchem Maße zugelassen werden können", erklärt Kozerke. „Es gibt sehr unterschiedliche Möglichkeiten, um Hochwassergefahren vorzubeugen. Grundsätzlich unterscheidet man technische Hochwasserschutz- und Rückhaltmaßnahmen sowie naturräumliche Planungsstrategien für urbane Fließgewässer. Unter den technischen Hochwasserschutz fallen zum Beispiel Talsperren, Hochwasserrückhaltebecken, Hochwasserschutzmauern, Treibgutfallen oder hochwasserspezifische Objektschutzmaßnahmen. Diese haben häufig – auch aus wirtschaftlichen Gründen – HQ100 als Bemessungsgrundlage. Darüber hinaus kann man naturräumliche Maßnahmen zum Wasserrückhalt vornehmen und beispielsweise Renaturierungsmaßnahmen durchführen. Das können Böschungen statt Mauern oder Rückbau von Flächenversiegelungen sein. Auch können Auen als sogenannte Retentionsflächen – also naturnahe Überflutungsflächen – genutzt werden. Die Hochwasserresilienz kann nur dann maximal effektiv und nachhaltig verbessert werden, wenn mehrere Ansätze kombiniert angewandt werden.

Wir müssen immer die lokalen Gegebenheiten berücksichtigen und dann individuell prüfen, welche Maßnahmen für ein bestimmtes Gebiet sinnvoll und umsetzbar sind. Denn es gibt keinen universellen Masterplan, der für jeden Ort passend ist.

Nehmen wir beispielsweise die Region rund um die Stadt Stolberg. Direkt nach der Flutkatastrophe haben wir zusammen mit dem Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft der RWTH Aachen University und weiteren Fachleuten verschiedene Maßnahmen zur Stärkung der Hochwasserresilienz identifiziert, die nun sukzessive an den Flüssen Vicht und Inde hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft werden."

Große Baumaßnahmen, große Wirkung

Zwei große Hochwasserrückhaltebecken werden in Zukunft oberhalb von Stolberg entstehen, um die unmittelbar an der Vicht gelegenen Stadtgebiete besser zu schützen. „Was den technischen Hochwasserschutz angeht, empfehlen wir möglichst große Schutzmaßnahmen und führen hierfür vorab hydrologische und hydraulische Berechnungen sowie wasserbaulich-technische Bemessungen durch. Flankierend sollen – wo möglich – zusätzliche natürliche Retentionsflächen geschaffen werden, die dem Gewässer Raum geben."

„Wir müssen immer im Blick behalten: Die Umsetzung von großen technischen Schutzmaßnahmen wie etwa der Bau von Rückhaltebecken ist zeit- und kostenintensiv", erläutert Kozerke. „Sie stellen meist einen großen Eingriff in die Natur dar und verändern die aktuelle Flächennutzung. Die Umsetzung muss sorgfältig abgewogen werden, unter Berücksichtigung der Anforderungen der Sicherheitstechnik und des Natur- und Landschaftsschutzes. Eine große Hürde ist die Diskrepanz zwischen Flächenbedarf und Flächenverfügbarkeit. Dennoch gibt es gute Kompromisslösungen und auch die Mehrfachnutzung solcher Flächen ist oft sinnvoll möglich.

Im Fall der beiden Hochwasserrückhaltebecken im Umland von Stolberg war die Diskussion besonders kompliziert, da die Flächen für die Becken nicht zur Gemeinde selbst gehören. Somit mussten andere Gemeinden dieser Nutzung zustimmen – ohne selbst davon zu profitieren."

Prof. Dr. Stefan Greiving ergänzt: „Das möchte ich klar unterstreichen. Für viele Gemeinden gerade im ländlichen Raum ist das Thema Hochwasserschutz sehr sensibel, da von den Maßnahmen oft in erster Linie urbane Gebiete profitieren. Jedoch muss klar sein: Wenn man Hochwasserschutz deutlich verbessern will, muss man in große technische Bauwerke wie zum Beispiel auch Talsperren investieren. Diese sind aber nicht überall umsetzbar – wie etwa im Ahrtal. Das besteht nicht nur – wie das Wort suggeriert – aus einem Tal, sondern aus vielen Tälern. Hier braucht es andere Lösungen zur Risikominimierung."

Bewusstsein schärfen, Dialog führen

Das Ausmaß des Starkregen- und Hochwasserereignisses 2021 wurde insbesondere in bebauten Gebieten deutlich. Sie wurden stark in Mitleidenschaft gezogen bis hin zur vollständigen Zerstörung. Die Infrastruktur wurde schwer beschädigt und viele Menschen waren plötzlich ohne Wohnraum. Greiving betont: „Gerade in Innenstädten gibt es keine Möglichkeiten für große Schutzmaßnahmen. Deshalb ist es aus Sicht der Raumplanung umso wichtiger vorab zu prüfen, wie Flächen bebaut werden. Also, ob es sich beispielsweise um ein Privathaus, ein Geschäft, eine Tiefgarage oder ein Krankenhaus handelt. Wenn wir das Risiko zum ‚Schutz von Leib und Leben' in den Blick nehmen, ergibt sich ein sehr unterschiedliches Risiko, ob es sich um eine Tiefgarage oder ein Krankenhaus handelt. Wir sprechen hier von einem ‚risikobasiertem Planungsansatz'. Diesen haben wir vor einigen Monaten im Rahmen des KAHR-Projekts mit der Stadt Erftstadt in Form eines Planspiels getestet. Für die Stadt war es eine sehr wertvolle Erfahrung für die Stadtentwicklung."

Im Rahmen des KAHR-Projekt führt der Wissenschaftler verschiedene Planspiele durch, um sein Fachwissen an die Akteure in den betroffenen Gebieten weiterzugeben und diese in die Beratung aktiv einzubeziehen. „Ein sehr zentraler Punkt für erfolgreiche Lösungen ist immer der Dialog. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, zunächst Hintergrundwissen zu geben und Aufklärungsarbeit zu leisten. Das Thema Hochwasserschutz wollen wir immer wieder ins Bewusstsein aller rücken und im Gespräch halten. Denn schauen wir uns die Folgen des Klimawandels an, müssen wir in Zukunft mit immer häufigeren Extremwetterereignissen rechnen. Deshalb sind auch die Anpassung und Vorsorge so wichtig. In Bad Münstereifel haben wir im vergangenen Jahr ein Planspiel zum Thema Denkmalschutz und Risikovorsorge durchgeführt", berichtet Greiving. „Das ist nicht nur in Bad Münstereifel ein großes Thema, sondern überall, wo historische Stadtkerne betroffen sind. Hochwasserschutz und Denkmalschutz verfolgen meist unterschiedliche Ansätze. Dadurch kann die Umsetzung von Hochwasserschutzmaßnahmen verzögert werden. Mit der Simulation in Form eines Planspiels können wir natürlich nicht unmittelbar Baumaßnahmen umsetzen. Aber durch die Planspiele wollen wir verdeutlichen, dass man anders mit den verschiedenen Belangen und Ansätzen umgehen kann. Wir von der wissenschaftlichen Seite – aber auch zum Beispiel Wasserverbände – können hier das Angebot für Beratung geben und unser Fachwissen bereitstellen. Was jedoch umgesetzt wird, liegt in der Entscheidung der jeweiligen Gemeinde."

Auch Susanne Kozerke weiß: „Dialog ist wirklich das A und O. Es kommt sehr auf unser Gegenüber an, aber gerade nach der Flutkatastrophe 2021 sehen wir viel Dynamik und es kommen ganz neue Anfragen an uns heran. So sind ganz aktuell mehrere Industriebetriebe, die an der Vicht liegen, mit uns in Kontakt getreten. Auf deren Gelände wurden Gebäude so stark zerstört, dass der Wiederaufbau in Frage gestellt wurde. Die Entscheidung ist nun für den Hochwasserschutz gefallen: Die Industriebetriebe werden die Gebäude zurückbauen und die freiwerdenden Flächen dem WVER zur Verfügung stellen, damit wir diese zur Gewässerausweitung der Vicht nutzen können. Mit unserem Hydraulik-Modell haben wir bereits im Vorfeld ausgerechnet, dass diese Maßnahme lokal unglaublich viel bringt."

Das Beispiel zeigt: Mit der fachlichen Beratung können direkt beim Wieder- und Neuaufbau Hochwassergefahren verringert werden – an der Vicht, aber auch in den weiteren betroffenen Gebieten.

Was bedeutet HQ100?

Als Bemessungsgrundlage für den technischen Hochwasserschutz dient ein sogenanntes HQ100 – also ein 100-jährliches Hochwasser. Ein HQ100 bezeichnet ein Hochwasserereignis, das mit der Wahrscheinlichkeit von 1/100 jedes Jahr erreicht oder überschritten wird. Dies bedeutet nicht, dass ein HQ100 nur einmal alle 100 Jahre stattfindet, sondern, dass dieses statistisch gesehen 100 Mal in 10.000 Jahren stattfindet. Bei extremen Hochwasserereignissen wie im Juli 2021, die über ein HQ100 hinausgehen, ist der technische Hochwasserschutz jedoch meist nicht ausreichend. Hinzu kommt, dass es u.a. aufgrund der Folgen des Klimawandels vermutlich zu einer Verschiebung der Hochwasserstatistiken kommt, so dass früher auf HQ100 bemessene und errichtete Hochwasserschutzanlagen für heutige und zukünftige HQ100 nicht mehr ausreichend sind. (siehe Webseite zu Hochwasserrisiko)